Bild des Monats

Titel: Gato y mariposa
Maler: Marcelo Medina
Jahr: 2000
Material: Acryl auf Papier
Größe: 40x40


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Wer kann sich eine Moral leisten?

Im Stück Pygmalion (J. B. Shaw) und in der entsprechenden Operette "My fair Lady" finden wir folgenden Dialog:



HIGGINS. Do you mean to say, you callous rascal, that you would sell your daughter for 50 pounds?
DOOLITTLE. Not in a general way I wouldn't; but to oblige a gentleman like you I'd do a good deal, I do assure you.
PICKERING. Have you no morals, man?
DOOLITTLE. Can't afford them, Governor. Neither could you if you was as poor as me.

Für uns relevant ist der Teil:

PICKERING. Mann, haben Sie denn keine Moral?
DOOLITTLE. Kann ich mich nicht leisten, Chef. Könnten Sie auch nicht, arm wie ich.

Womit wir zum Titel und Thema dieser Schrift kommen: wer kann sich eine eigentlich eine Moral leisten?Unter dem Begriff "Moral" verstehen wir im Folgenden, den Satz an normativen Aussagen, die das Leben in einer Gesellschaft regeln. Teile dieser Normen werden im positiven Recht oder anderer institutionell sanktionierten Schriften niedergelegt, andere existieren nur implizit, werden aber als Komponenten eines minimalen Konsenses allgemein anerkannt.


Was wollen wir hier unter "sich etwas leisten" verstehen? Das kann zweierlei bedeuten:

  1. Man leistet sich eine Moral, wenn man ihre Normen akzeptiert und die eigenen Handlungen danach richtet oder wenigstens versucht, es zu tun.
  2. Wir leisten uns eine Moral, in einem anderen Sinne, wenn wir in der Lage sind, diese als allgemein gültig durchzusetzen, die Handlungen anderer Leute aufgrund dieser Regeln zu beurteilen, und Menschen zu bestrafen, die gegen die Normen verstoßen.


Beide Möglichkeiten sind unabhängig von einander, schließen sich aber nicht aus. Moralische Regel und Urteilen über Handlugen haben prinzipiell einen Universalitätsanspruch, sie gelten für alle oder für eine Gruppe; die private individuelle Moral gibt es nicht.


Ich kann bei der Begründung der Normen meine Aufmerksamkeit auf meine Handlungsmaximen richten und mir wünschen, sie wäre im Sinne des "Kategorischen Imperativs" für alle gültig (autonome Moral). Moralische Normen können dem Individuum aber auch von der Gesellschaft bzw. allgemein von anderen Menschen aufgezwungen werden (heteronome Moral).


Im ersten Fall, ist es schwierig dem Universalitätsanspruch gerecht zu werden, warum könnte nicht jeder seine eigene Moral haben? Im zweiten Fall ist viel zu einfach sich selbst, aus Mangel an Überzeugung, von den Normen zu befreien.


Aber kehren wir zum Hauptfrage zurück. Sicherlich würden Kant und Schopenhauer und die meisten Ethiker eine zu 1. ähnliche Antwort geben, wenn sie gefragt würden, was es heißt, sich eine Moral zu leisten. Marx, dagegen, hatte eher die zweite Bedeutung im Sinne, als er sagte: "Die herrschende Moral ist die Moral der herrschenden Klasse".


Und Doolitlle? Was meint er? Er denkt, dass nur wohlhabende Menschen sich leisten können. Warum? Weil wer seine Handlungen moralischen Regeln unterwirft wichtige Einschränkungen in seiner Überlebensstrategie in Kauf nimmt. Wer jeden Tag um seine nackte Existenz kämpft muss egoistisch handeln, er kann keine Rücksicht auf Interessen anderer Personen nehmen.


Wenn wir die Evolutionsgeschichte als Beispiel nehmen - behaupten Sozialdarwinisten immer wieder -, lernen wir, dass egoistische Handlungen die Regel sind und dazu führen, dass nur die besten überleben, zum Vorteil der Gattung.


Adam Smith, einer der Heiligen im Himmel der Volkswirtschaftslehre, behauptet, dass wir ruhigen Gewissens nur an uns selbst denken dürfen, eine magische Hand würde schon dafür sorgen, dass die Ergebnisse unserer Handlungen irgendwie der Allgemeinheit zugute kommt, also nicht nur in the long run der abstrakten Entität Gattung, sondern auch den Konkurrenten im heutigen Kampf um das Überleben.


Soziobiologen behaupten dagegen, dass Altruismus, also Selbstlosigkeit, für Menschen und andere sozial organisierte Tiere einen noch höheren Nutzen haben als Selbstsucht. Menschen konnten sich unter anderem deshalb den anderen Tierarten gegenüber durchsetzen, weil ihre Individuen nicht mehr egoistisch waren. Angenommen dies wäre richtig, es stellt sich nun die Frage, ob das was für die Art (oder Gattung) gut ist, auch für das Individuum gut sein muss. Und das kann man durchaus bezweifeln. Ein Beispiel: Insekten gehören zu den erfolgsreichsten Tierarten; ihre Strategie besteht unter anderen darin, so viele "Kinder" wie möglich in die Welt zu setzen und schnell zu sterben. Vor allem das schnelle Sterben scheint sehr wichtig zu sein, denn dadurch verschwinden unangepassten Individuen wieder. Dadurch kann die Art schnell auf Veränderungen der Umwelt reagieren und sich anpassen.


Aber wie steht es mit dem Einzelnen. Ist es für mich ein Vorteil, wenn ich nach dem verbreiten meiner Genen durch Reproduktion, schnell wieder sterben? Definitiv nicht. Da hatte Stirner Recht, wenn er meinte, wir sollten das Konkrete dem Abstrakten nicht opfern.


Mit der Moral verhält es sich ähnlich, aber nicht gleich. Einerseits ist es für ein Individuum nicht vorteilhaft, selbstlos zu sein, denn das bringt ihn unnötige Schwierigkeiten im Kampf ums Dasein; anderseits ist es günstig für das Individuum, wenn die anderen Individuen seiner Art selbstlos sind, denn dadurch profitiert er von der Hilfe dieser. Vom Einzelnen her betrachtet ist also das Beste, wenn er sich egoistisch verhält, die anderen aber selbstlos. Und so landen wir wieder bei Marx: Moral predigen, den anderen altruistisches Handeln aufzwingen, moralische Verfehlungen bestrafen und sich selbst keiner Regel unterwerfen, das scheint die beste Lösung für das Individuum zu sein. Dies zu erreichen braucht ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen viel Macht und vor allem gut funktionierende Institutionen, welche die moralischen Regeln friedlich, durch Sozialisation oder Indoktrination, in die Köpfe der Menschen einpflanzen und sie glauben lassen, sie hätten freiwillig entschieden, sich an solche Normen zu halten. Für schwierige Fälle sollten dann gesellschaftlich Ächtung, Gefängnis oder Hölle bereitgehalten werden.
Nun, wer kann sich eine Moral leisten?


Eine Moral, im Sinne von Normen, nach denen die eigenen Handlungen gerichtet werden, können sich nur wenige Leute leisten, Leute, die vom Existenzkampf geschont werden, zum Beispiel, weil sie eine unkündbare akademische Stelle an einer europäischen Universität innen haben, so jemand wie Professor Higgins.


Wenn Moral als Regelsystem für die anderen verstanden wird, dann können sich nur sehr mächtige Gruppen eine solche Moral leisten. Dazu sind eine gut funktionierende Propaganda-Maschinerie, Kontrollinstitutionen und (reale oder erfundene) Strafanstalten notwendig. Religionen spielen in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle.


Warum die letzteren eine Moral brauchen ist klar: um über das positive Rechtssystem hinaus das Leben der Untertanen dominieren zu können.


Der Fall von Professor Higgins hat nicht mit Macht sondern mit Distinktion zu tun. Der moralische Anspruch ist genauso ein Abzeichen elitärer Gruppen wie die Ästhetisierung des Alltags, von der Bourdieu spricht. Der vornehme Mensch kann sich eine Moral leisten, genau so wie er sich Designmöbel oder Kunstwerke leisten kann. Dabei geht es weniger um das Haben als um das Verstehen; man kennt die ungeschriebenen Regeln, die das Schöne und das Gute (griechisch: kalos kai agathos) ausmachen; man weißt, moralisch richtige Handlugen von falschen zu unterscheiden. Es ist eine Frage des Geschmacks, man ordnet letztendlich die Ethik der Ästhetik. zum Anfang...