
Wer
kann sich eine Moral leisten?
Im
Stück Pygmalion (J. B. Shaw) und in der entsprechenden Operette
"My fair Lady" finden wir folgenden Dialog:
HIGGINS. Do you mean to say, you callous
rascal, that you would sell your daughter for 50 pounds?
DOOLITTLE. Not in a general way I wouldn't; but to oblige a gentleman
like you I'd do a good deal, I do assure you.
PICKERING. Have you no morals, man?
DOOLITTLE. Can't afford them, Governor. Neither could you if you
was as poor as me.
Für
uns relevant ist der Teil:
PICKERING.
Mann, haben Sie denn keine Moral?
DOOLITTLE. Kann ich mich nicht leisten, Chef. Könnten Sie
auch nicht, arm wie ich.
Womit wir zum
Titel und Thema dieser Schrift kommen: wer kann sich eine eigentlich
eine Moral leisten?Unter dem Begriff "Moral" verstehen
wir im Folgenden, den Satz an normativen Aussagen, die das Leben
in einer Gesellschaft regeln. Teile dieser Normen werden im positiven
Recht oder anderer institutionell sanktionierten Schriften niedergelegt,
andere existieren nur implizit, werden aber als Komponenten eines
minimalen Konsenses allgemein anerkannt.
Was wollen wir hier unter "sich etwas leisten" verstehen?
Das kann zweierlei bedeuten:
- Man
leistet sich eine Moral, wenn man ihre Normen akzeptiert und die
eigenen Handlungen danach richtet oder wenigstens versucht, es
zu tun.
- Wir
leisten uns eine Moral, in einem anderen Sinne, wenn wir in der
Lage sind, diese als allgemein gültig durchzusetzen, die
Handlungen anderer Leute aufgrund dieser Regeln zu beurteilen,
und Menschen zu bestrafen, die gegen die Normen verstoßen.
Beide Möglichkeiten sind unabhängig von einander,
schließen sich aber nicht aus. Moralische Regel und Urteilen
über Handlugen haben prinzipiell einen Universalitätsanspruch,
sie gelten für alle oder für eine Gruppe; die private
individuelle Moral gibt es nicht.
Ich kann bei der Begründung der Normen meine Aufmerksamkeit
auf meine Handlungsmaximen richten und mir wünschen, sie wäre
im Sinne des "Kategorischen Imperativs" für alle
gültig (autonome Moral). Moralische Normen können dem
Individuum aber auch von der Gesellschaft bzw. allgemein von anderen
Menschen aufgezwungen werden (heteronome Moral).
Im ersten Fall, ist es schwierig dem Universalitätsanspruch
gerecht zu werden, warum könnte nicht jeder seine eigene Moral
haben? Im zweiten Fall ist viel zu einfach sich selbst, aus Mangel
an Überzeugung, von den Normen zu befreien.
Aber kehren wir zum Hauptfrage zurück. Sicherlich würden
Kant und Schopenhauer und die meisten Ethiker eine zu 1. ähnliche
Antwort geben, wenn sie gefragt würden, was es heißt,
sich eine Moral zu leisten. Marx, dagegen, hatte eher die zweite
Bedeutung im Sinne, als er sagte: "Die herrschende Moral ist
die Moral der herrschenden Klasse".
Und Doolitlle? Was meint er? Er denkt, dass nur wohlhabende Menschen
sich leisten können. Warum? Weil wer seine Handlungen moralischen
Regeln unterwirft wichtige Einschränkungen in seiner Überlebensstrategie
in Kauf nimmt. Wer jeden Tag um seine nackte Existenz kämpft
muss egoistisch handeln, er kann keine Rücksicht auf Interessen
anderer Personen nehmen.
Wenn wir die Evolutionsgeschichte als Beispiel nehmen - behaupten
Sozialdarwinisten immer wieder -, lernen wir, dass egoistische Handlungen
die Regel sind und dazu führen, dass nur die besten überleben,
zum Vorteil der Gattung.
Adam Smith, einer der Heiligen im Himmel der Volkswirtschaftslehre,
behauptet, dass wir ruhigen Gewissens nur an uns selbst denken dürfen,
eine magische Hand würde schon dafür sorgen, dass die
Ergebnisse unserer Handlungen irgendwie der Allgemeinheit zugute
kommt, also nicht nur in the long run der abstrakten Entität
Gattung, sondern auch den Konkurrenten im heutigen Kampf um das
Überleben.
Soziobiologen behaupten dagegen, dass Altruismus, also Selbstlosigkeit,
für Menschen und andere sozial organisierte Tiere einen noch
höheren Nutzen haben als Selbstsucht. Menschen konnten sich
unter anderem deshalb den anderen Tierarten gegenüber durchsetzen,
weil ihre Individuen nicht mehr egoistisch waren. Angenommen dies
wäre richtig, es stellt sich nun die Frage, ob das was für
die Art (oder Gattung) gut ist, auch für das Individuum gut
sein muss. Und das kann man durchaus bezweifeln. Ein Beispiel: Insekten
gehören zu den erfolgsreichsten Tierarten; ihre Strategie besteht
unter anderen darin, so viele "Kinder" wie möglich
in die Welt zu setzen und schnell zu sterben. Vor allem das schnelle
Sterben scheint sehr wichtig zu sein, denn dadurch verschwinden
unangepassten Individuen wieder. Dadurch kann die Art schnell auf
Veränderungen der Umwelt reagieren und sich anpassen.
Aber wie steht es mit dem Einzelnen. Ist es für mich ein Vorteil,
wenn ich nach dem verbreiten meiner Genen durch Reproduktion, schnell
wieder sterben? Definitiv nicht. Da hatte Stirner Recht, wenn er
meinte, wir sollten das Konkrete dem Abstrakten nicht opfern.
Mit der Moral verhält es sich ähnlich, aber nicht gleich.
Einerseits ist es für ein Individuum nicht vorteilhaft, selbstlos
zu sein, denn das bringt ihn unnötige Schwierigkeiten im Kampf
ums Dasein; anderseits ist es günstig für das Individuum,
wenn die anderen Individuen seiner Art selbstlos sind, denn dadurch
profitiert er von der Hilfe dieser. Vom Einzelnen her betrachtet
ist also das Beste, wenn er sich egoistisch verhält, die anderen
aber selbstlos. Und so landen wir wieder bei Marx: Moral predigen,
den anderen altruistisches Handeln aufzwingen, moralische Verfehlungen
bestrafen und sich selbst keiner Regel unterwerfen, das scheint
die beste Lösung für das Individuum zu sein. Dies zu erreichen
braucht ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen viel Macht und
vor allem gut funktionierende Institutionen, welche die moralischen
Regeln friedlich, durch Sozialisation oder Indoktrination, in die
Köpfe der Menschen einpflanzen und sie glauben lassen, sie
hätten freiwillig entschieden, sich an solche Normen zu halten.
Für schwierige Fälle sollten dann gesellschaftlich Ächtung,
Gefängnis oder Hölle bereitgehalten werden.
Nun, wer kann sich eine Moral leisten?
Eine Moral, im Sinne von Normen, nach denen die eigenen Handlungen
gerichtet werden, können sich nur wenige Leute leisten, Leute,
die vom Existenzkampf geschont werden, zum Beispiel, weil sie eine
unkündbare akademische Stelle an einer europäischen Universität
innen haben, so jemand wie Professor Higgins.
Wenn Moral als Regelsystem für die anderen verstanden wird,
dann können sich nur sehr mächtige Gruppen eine solche
Moral leisten. Dazu sind eine gut funktionierende Propaganda-Maschinerie,
Kontrollinstitutionen und (reale oder erfundene) Strafanstalten
notwendig. Religionen spielen in diesem Zusammenhang eine wesentliche
Rolle.
Warum die letzteren eine Moral brauchen ist klar: um über das
positive Rechtssystem hinaus das Leben der Untertanen dominieren
zu können.
Der Fall von Professor Higgins hat nicht mit Macht sondern mit Distinktion
zu tun. Der moralische Anspruch ist genauso ein Abzeichen elitärer
Gruppen wie die Ästhetisierung des Alltags, von der Bourdieu
spricht. Der vornehme Mensch kann sich eine Moral leisten, genau
so wie er sich Designmöbel oder Kunstwerke leisten kann. Dabei
geht es weniger um das Haben als um das Verstehen; man kennt die
ungeschriebenen Regeln, die das Schöne und das Gute (griechisch:
kalos kai agathos) ausmachen; man weißt, moralisch richtige
Handlugen von falschen zu unterscheiden. Es ist eine Frage des Geschmacks,
man ordnet letztendlich die Ethik der Ästhetik.
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